Die drei „R“

Der letzte Abschnitt betrifft zwar hauptsächlich die Hundewelt, ist aber nicht minder wichtig für den Menschen. Denn erst aus der Kenntnis der hündischen Verhaltensweisen und der Anforderungen, die sich daraus ergeben, kann sich der Mensch angemessen und unterstützend verhalten bzw. bewerten.

Eine Begegnung – ja, schon eine Sichtung – zwischen Hunden läuft nach bestimmten Bedingungen ab: in „Ruhe“, mit „Respekt“ und nach „Regeln“.
Da aber nicht mehr alle Hunde die Grundregeln einer hündischen Begegnung beherrschen, kommt es gerade auf Hundewiesen zu allen möglichen Formen des Zusammentreffens. Viele Hunde sind dabei gestresst unterwegs, oft rennend, sich gegenseitig anspringend und verfolgend, oft mit lautem Bellen und Knurren … was gerne, aber undifferenziert als „spielen“ bezeichnet wird.

Aus unserer Sicht: Viele Hunde verhalten sich so, weil sie kaum mehr Lösungen für die vielen und unpassenden Begegnungen haben und sich den dabei entstehenden Stress permanent ablaufen müssen.
Denn Hunde, die in Stellung leben, kennen nicht nur die Regeln einer „gesitteten“ Begegnung, sondern bestehen auch auf der Einhaltung der Abläufe, die bei einer Hundebegegnung gelten.

Ruhe

Die erste Regel betrifft die Ruhe, in der sich Hunde bewegen, auch und gerade bei Kontakten unter ihresgleichen. Hunde, die in andere Hunde regelrecht reinbrettern oder permanent davonspringen und rauslaufen … um anschließend wieder auf den nächsten wild kläffend zuzustürmen … zeigen dieses Verhalten aufgrund fehlender innerer Stabilität und aus Überforderung, denn sie haben für viele Situationen oder Begegnungen keine Lösungen mehr. Sie sind so mitunter kaum mehr in der Lage, sich artgerecht zu begegnen.

Eine ruhige Annäherung zwischen Hunden ist aber Grundvoraussetzung für die Durchführung der notwendigen Begrüßungs- und Bestätigungsrituale, die letztlich eine aggressionsfreie Begegnung sicherstellen sollen.

Eine wesentliche Ursache für dieses Verhalten ist, dass den Hunden selten in ausreichender Form die Gelegenheit gegeben wurde, sich in der notwendigen Ruhe ihrer Umwelt zu stellen.
Die Verarbeitung der Umwelt – insbesondere der Menschenwelt – ist ein langwieriger Prozess. Durch permanenten neuen Input und ohne dass die Reize vom Vortag verarbeitet werden konnten, wird der Hund kaum merklich unter Dauerstress gesetzt, was ihn am Ende fast zwangsläufig in die Überforderung führt. Wenn dann noch Beschäftigungen zur „Auslastung“ des Hundes hinzu kommen (Fahrrad fahren, Ballspiele etc.), verstärkt dies den Teufelskreis nur.
Welpen aus einem strukturierten Wurf werden derartige Verhaltensweisen nicht zeigen. Sie bewegen sich von sich aus ruhig und bedächtig, gesichert und gehalten von der Struktur, beschäftigen sich abwartend mit neuen Reizen.

Umso wichtiger ist es, derart „beschleunigte“ Hunde wieder in ihre eigene Grundruhe zu bringen. Für viele Menschen ist es eine wirkliche Überraschung und nachhaltige Erfahrung, wie langsam sich strukturierte Hunde im Grunde bewegen.

Nur eine „Entschleunigung“ kann diesen Hunden wieder ermöglichen, sich ihrer Umwelt angemessen zu stellen. Die Aufgabe des Menschen ist es dabei, seinen „schnellen“ Hund von einem entspannten und ruhigen Tempo zu überzeugen, ihn anfangs dazu vielleicht sogar zu „nötigen“. Indem man einfach stehen bleibt und sich weigert, das vom Hund angeschlagene Tempo mitzugehen. Indem man selbst all den Dingen am Wegesrand mit einer neuen Aufmerksamkeit begegnet, vielleicht eine Wiese Stück für Stück abgeht, den Hund einlädt, sie sich gemeinsam anzuschauen. Um ihm später – wenn sich sein Tempo schon deutlich verringert hat – die Möglichkeit zu geben, sich auch den im Wesentlichen menschlichen Umweltreizen aus einer gesicherten Position und in Ruhe zu stellen. Denn nur so ist es für den Hund möglich, all die Reize – die ja kaum noch etwas mit seiner natürlichen Umgebung zu tun haben – innerlich abarbeiten zu können, sie letztlich zu "verstehen".
Aus dieser neuen Grundruhe heraus wird es ihm auch möglich sein, sich anderen Hunden wieder angemessen – ohne Überforderung – zu nähern.

Respekt

Die Annäherung zwischen Hunden hat aber nicht nur in Ruhe, sondern auch mit Respekt zu erfolgen. Dies gelingt umso besser, je klarer sich die Hunde ihrer Stellung bewusst sind bzw. sich gegenseitig in ihrer Stellung erkennen können.

Insbesondere strukturierte Hunde können über diese Identifizierung bereits im Vorfeld erkennen, ob eine Begegnung für sie „passend“ oder aber „unpassend“ und damit unsinnig ist.

„Wissende“ Hunde zeigen grundsätzlich ein ruhiges, abwartendes Verhalten, um dem Gegenüber – vor allem, wenn die Stellung nicht passt – den nötigen Respekt entgegenzubringen. Passen die Stellungen nicht, geht man sich aus dem Weg, respektiert die Tabuzone des anderen.

Leithunde untereinander werden sich dabei – sofern die Distanzen stimmen – aufbauen, identifizieren, grundsätzlich auf Entfernung begrüßen und ohne nähere Kontaktaufnahme aus dem Weg gehen.

Bei Kontakten zwischen Leithunden und nicht passenden Bindehunden gehen zum Beispiel die Bindehunde still, lang gestreckt, in ausreichendem Abstand, mit gesenktem Kopf und selten mit Blickkontakt an den Leithunden vorbei. Sofern diese Bedingungen erfüllt werden, gibt es selten Anlass für einen Kontakt, sind jedoch Provokationen erkennbar oder unangemessenes Verhalten (zum Beispiel provokantes Scharren oder Markieren) kann es durchaus zu einer Ermahnung durch den Leithund kommen, bei mental starken Tieren reicht hierfür oft ein körperliches Aufbauen und fixieren, damit sein Gegenüber Bescheid weiß.

Regeln

Dennoch gibt es natürlich direkte Begegnungen, die nicht geplant sind, zufällig passieren oder weil die Umstände ein Ausweichen oder Ähnliches nicht zulassen. In diesen Fällen greifen – wie bei einer gewollten Begegnung zwischen passenden oder interessierten Hunden – bestimmte Regeln, nach denen ein Kontakt grundsätzlich abzulaufen hat (ähnlich einem „Guten Tag und guten Weg“ unter Menschen).

Alle direkten Begegnungen laufen somit nach einem Grundritual ab, dem erst im Anschlussverhalten (bei passenden Stellungen) kleine spezifische Besonderheiten folgen. Bei überraschenden und/oder unpassenden Begegnungen geht es im Wesentlichen darum, dem anderen durch die Einhaltung des Grundrituals einer höflichen Begrüßung die Absicht eines aggressionsfreien Verhaltens zu bestätigen.

Bei jeder Begegnung kommt es dabei zuerst zu einem kurzen Nasenkontakt, dann laufen beide parallel aneinander vorbei und drehen sich anschließend zu einer angedeuteten Analprüfung ein, erst in die eine Richtung, dann gegenläufig in die andere.
Bei unpassenden Begegnungen bleibt es in aller Regel bei diesem groben Ablauf, bei stellungsmäßig passenden Begegnungen sind zusätzlich Sozialgesten (ein Zungenschleck über den eigenen Nasenspiegel), weitere Details wie zum Beispiel eine T-Stellung des Bindehundes (quer vor dem Eckhund) sowie ein stellungsspezifisches Anschlussverhalten zu sehen.

Diese Abläufe in der vollen Länge kommen jedoch nur bei stellungsstarken bzw. stellungsperfekten Hunden vor, die meisten anderen Hunde zeigen nur noch – mehr oder weniger erkennbar – Teile dieser Begrüßungsrituale (aus deren Übereinstimmung mit den idealtypischen Abläufen sich wiederum Hinweise auf das Stellungswissen und die Stellungsstärke des jeweiligen Hundes ergeben).

Schlussbemerkung

Die vorstehenden Ausführungen dürften einen ersten Einblick in den grundlegend anderen Ansatz des Wissens über die vererbten Rudelstellungen bieten. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass es nicht darum geht, Hunde nach einer obskuren Theorie zu behandeln, sondern dass es wie bei jeder Hundehaltung selbstverständlich darum geht, einen Hund sowohl zu erziehen als auch zu führen. Nach unserer Ansicht ist es aber unabdingbar, dies ganz praktisch an den Grundbedürfnissen einer jeden Stellung und eines jeden Hundes auszurichten.

Das Wissen über die Rudelstellungen hört aber hier nicht auf, im Gegenteil! Die eigentlichen Überlegungen – hinsichtlich der 7 Stellungen und den daraus folgenden Anforderungen an den Menschen – folgen erst noch.
Sie sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Forums und werden auch schon im öffentlich zugänglichen Teil vereinzelt diskutiert.
Doch selbst diese Ebene ist noch nicht alles: Im Mitgliederbereich unseres Forums werden anhand von Tagebüchern und weiterer Themen die eigentlichen (stellungsspezifischen) Fragen ausführlich diskutiert. Hier zeigen sich dann auf einer ganz individuellen Ebene die jeweiligen Prägungen und Vorlieben jedes einzelnen Hundes, seine persönliche „Interpretation“ der Stellungsarbeit, aber eben auch seine Stellungsfähigkeit im Vergleich mit einem stellungsperfekten, idealtypischen Verhalten. Auf dieser Ebene zeigt sich dann sehr deutlich, dass es keine Methode gibt, nach der alle Hunde, ja noch nicht einmal alle Hunde dergleichen Stellung standardisiert „abgehandelt“ werden können.

Dieses Kapitel hat somit nur die oberste Schicht ein wenig freigelegt und vielleicht trotzdem schon gezeigt, wie sich dieses Wissen über die Rudelstellungen in ein konkretes, ganz „handfestes“ Verhalten in den Alltag überführen lässt.