Ausgangslage

Die Ausführungen im vorhergehenden Kapitel gehen von einem idealtypischen Verlauf einer Vergesellschaftung von (mindestens stellungsstarken) Hunden bzw. Welpen aus, die aus strukturiert geborenen Würfen stammen.
Dies kann aber nur die Zukunft sein, da – wie dies schon ausgeführt wurde – die heute lebenden Hunde, mit denen auch fast alle heutigen Mitglieder zu uns gekommen sind, nur noch selten diesen gewünschten Grad der Stellungsfähigkeit mitbringen.
Daraus entstand für den Verein ein Dilemma: Wie soll man Menschen vom Wissen über die vererbten Rudelstellungen anhand von Abläufen überzeugen, die zwischen stellungsstarken, vergesellschafteten Hunden stattfinden, wenn die heutigen Hunde dieses Wissen oft nur in unzureichendem Ausmaß mitbringen, diese Abläufe selbst also nur noch lückenhaft zeigen können?

Dieses Dilemma konnte nur aufgelöst werden, indem die Vereinsarbeit an die vorliegenden Verhältnisse angepasst wurde. Die ersten Jahre waren deshalb davon geprägt, erst einmal ältere Hunde miteinander „spät“ zu vergesellschaften. Trotz der verschiedenen Vorleben der jeweiligen Hunde sind dabei eine Reihe von nunmehr stabilen Teams entstanden. Seit einigen Jahren werden auch vermehrt strukturiert geborene Welpen mit älteren, meist stellungsfähigen Hunden ebenfalls „spät“ vergesellschaftet. Mit der Neuausrichtung des Vereins zum 1.1.2017 werden nunmehr all die gesammelten Erfahrungen dazu genutzt, zwischen diesen Teams erweiterte Strukturen aufzubauen. Auch dies ist langwierig und mit Schwierigkeiten verbunden, da nicht immer alle Hunde entweder die gleiche Stellungsfähigkeit, die gleiche mentale oder physische Stärke oder überhaupt die Bereitschaft mitbringen, sich in größeren Einheiten zusammenschließen zu wollen. Diese Tatsachen sind in der Regel den Vorleben der älteren Hunde geschuldet und müssen akzeptiert werden. Oftmals zeigt aber bereits ein Probelauf in einer anderen Konstellation, dass diese Schwierigkeiten nur gruppenbezogen sind und dementsprechend wie von selbst verschwinden, weil sie in der anderen Gruppe aufgrund der abweichenden Gewichtung keine Rolle mehr spielen.
Trotzdem wird es Fehlschläge, d.h. abgebrochene Vergesellschaftungen geben (oftmals sind in diesen Fällen die älteren Tiere als stellungsschwach eingestuft worden). Die Diskussionen darüber sind aber kein Anlass, das Wissen über die vererbten Rudelstellungen grundsätzlich in Frage stellen zu müssen, sondern lediglich ein Zeichen dafür, dass die Tiere nicht mehr zu 100% in ihre Geburtsstellung zurückfinden konnten.

Was ist eine Spätvergesellschaftung?

Spätvergesellschaftung bedeutet das Zusammenbringen von Hunden, die zwar hinsichtlich ihrer Stellung zusammen passen, aber letztlich nicht von Geburt an nur mit den passenden Hunden leben und ihr Wissen tagtäglich anwenden konnten. Sie haben also über die Jahre immer mehr „Wissen“ schlichtweg vergessen, da die Kontakte mit unpassenden Hunden (Hundeschule, Hundewiese etc.) sie während ihrer eigenen geistigen Reifung (bis zum Alter von mindestens 2 – 3 Jahren) zu Notlösungen zwangen, die aus eigener Überforderung entstanden (rennen, bellen, anspringen, pöbeln, weglaufen etc.).

Mögliche Probleme

Nun anzunehmen, es sei ausreichend, einfach Hunde der passenden Stellung zusammen zu tun und alles weitere funktioniere von selbst, ist ein Fehlschluss!
Dies mag vielleicht irritieren, war doch bisher davon die Rede, dass gerade der passende Partner es den Hunden endlich ermöglicht, ihre Geburtsstellung leben zu können. Warum ist dies also dennoch so kompliziert?
Stellen Sie sich ein hochkomplexes Gebilde von Zahnrädern vor: Baute man diese nach Herstellung zusammen, würden sie perfekt verzahnt reibungslos über Jahre funktionieren.
Nun aber baut man diese Zahnräder mit anderen nicht passenden Zahnrädern zusammen: Wenn die Zahnräder zwar nicht genau passen, sich aber doch irgendwie mit Kraftaufwand bewegen lassen, schlagen und schleifen sie sich zunehmend ab – und dieses Gebilde wird irgendwann nicht mehr funktionieren.
Baut man nun zu einem späteren Zeitpunkt diese abgenutzten Zahnräder wieder mit passenden Zahnrädern zusammen, läuft es trotz allem nicht „rund" und man muss viel Arbeit investieren, bis die ursprünglich passenden Zahnräder wieder funktionieren. Das kann aber u.U. auch bedeuten, dass diese Zahnräder gar nicht mehr im Verbund funktionieren und ersetzt werden müssen.
Wir haben es bei Hunden aber nicht mit Dingen/Sachen zu tun, sondern mit Lebewesen! Und die versuchen – trotz der falschen Behandlung über Jahre – alles Mögliche, um die Ausgangssituation wieder herzustellen. Das gelingt jedoch nur den wenigsten. Bei manchen Rassehunden ist durch Fehl- oder Doppelbesatz schon im Wurf der negative Start gelegt, wodurch mehr Fehlverhalten entsteht als klar strukturiertes, stellungsgerechtes Agieren.

Reparaturverhalten

Erschwerend kommt hinzu, dass Hunde in der Lage sind, über Reparaturmechanismen und Ablenkungsverhalten nach außen zu suggerieren, dass die Welt für sie in Ordnung ist, auch wenn dies in ihrem Inneren nicht der Fall ist. Sie tun dies, weil das offene Zeigen von Schwäche und innerer, fortschreitender Ver- und Zerstörung eine Angriffsfläche für stellungsstarke und strukturierte Fremdhunde bieten würde. Sie tun dies, weil es ihren Tod bedeuten könnte, wenn sie die Schwächen offen zeigen würden.

Reparaturverhalten meint dabei die Kompensation der fehlenden passenden Hunde (vor allem, wenn Fehl- oder Mehrfachbesatz in einer Gruppe vorliegt), indem die vorhandenen Hunde versuchen, sich selbst zu führen oder zu sichern, eine fehlende Stellung zu besetzen oder überhaupt aufhören, Verhalten aus ihrer Geburtsstellung zu zeigen (was für sie selbst dann permanenten Stress bedeutet).

Diese innere Verfassung eines Hundes erkennen zu können, bedarf sehr großer Erfahrung. Eine Unterbrechung dieser oft jahrelangen Zwänge mag in einigen Bereichen möglich sein, wenn die Hunde noch über genügend Substanz aus ihrer Geburtsstellung verfügen. Allerdings ist dies keine Garantie für eine erfolgreiche Spätvergesellschaftung, sodass Fehlschläge nicht ausgeschlossen werden können, zumal es hier kaum praktische Erfahrungen gibt.

Bei allen Überlegungen sollte zudem nicht außer Acht gelassen werden, dass es den meisten Menschen an Wissen fehlt, wie sie sich natürlich in einer Hund-Mensch-Gemeinschaft zu verhalten haben. Dieses wäre aber notwendig, um die Hunde in ihrem gegebenen Ist-Zustand und der folgenden Entwicklung so unterstützen zu können, dass der Eingliederungsprozess positiv stattfinden kann. Auch muss man sich als Halter klar darüber sein, dass die Hunde nur bis zu einem gewissen Grad wieder in ihre Geburtsstellung zurückgehen können, also den perfekten Zustand – im Sinne des Wissens über die vererbten Rudelstellungen – nicht wieder erreichen werden.

Allgemeine Empfehlungen für eine Spätvergesellschaftung

Nachdem in den letzten Jahren eine ganze Reihe der älteren Hunde mit passenden Hunden erfolgreich vergesellschaftet wurden, gibt es inzwischen aufgrund der gemachten Erfahrungen eine Reihe von Empfehlungen.
Bei den meisten Stellungen muss nur auf den Grad der Stellungsfähigkeit geachtet werden, es dürfen jedoch keine großen Unterschiede bestehen. Mal ein bisschen stellungsstärker, mal identisch in der Stellungsfähigkeit – das ist individuell zu entscheiden, je nach aktuellem Zustand der Hunde.

Für die Erweiterung spielt es grundsätzlich keine Rolle, welches Alter das Tier hat, es sollte aber noch in der vollen Stellungsbereitschaft der Hunde liegen. Je nach Zustand des Hundes lässt zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr die Bereitschaft zur Neuaufnahme langsam nach (bei Vergesellschaftung mit einem Welpen verlängert sich diese Bereitschaft).
Die Entscheidung zur Erweiterung durch erwachsene Tiere sollte ausschließlich der bzw. die vorhandene(n) Hund(e) fällen. Es sollten ihm mehrere passende Geburtsstellungen vorgestellt werden. Der Mensch erkennt sehr schnell selbst am Verhalten seiner bzw. seines Tiere(s), welcher Hund bevorzugt wird.
Gute Chancen bestehen, wenn die vorhandenen erwachsenen Tiere unter stellungsfähig eingestuft worden sind und Welpen mit der passenden Geburtsstellung aufgenommen werden. Auch das ist zwar keine Garantie, aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es ein positiver Prozess für alle Seiten wird.

Auch die Gewichts- und Größenverhältnisse zwischen den Tieren sollten stimmen, da Vorteile in dieser Hinsicht den Bindehunden ermöglichen würden, sich und ihre Vorstellungen gegenüber den Eckhunden körperlich durchzusetzen. Ein kleinerer Eckhund wird unter diesen Bedingungen niemals versuchen, eine körperliche Korrektur zu setzen, weil er befürchten muss, in dieser für die Vergesellschaftung wichtigen Auseinandersetzung zu unterliegen, auf gut deutsch: Der Bindehund wird sich in diesem Fall einfach nichts sagen lassen!
Aus diesem Grund gilt, dass das Verhältnis Größe/Gewicht deutlich zugunsten des Eckhundes ausfallen sollte (ein Verhältnis von 3:2 für den Eckhund wäre sicher optimal).

Als weiterer Grundsatz ist zu beachten, dass immer nur der passende Bindehund mit dem schon vorhandenen Eckhund spät vergesellschaftet werden sollte, da sich durch das bisherige Zusammenleben des Bindehundes mit dem Halter bestimmte Automatismen entwickelt haben könnten, die von einem neu hinzu kommenden Eckhund oft nur schwer durchbrochen werden können.

Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen zu Alter, Gewicht und Größe der jeweiligen Hunde spielen aber auch die äußeren Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle.
So sollten die Hunde zu Beginn der Vergesellschaftung möglichst wenigen (ablenkenden) Außenreizen ausgesetzt werden, bis sie sich in der Gemeinschaft stabilisiert haben, denn nur dann sind sie in der Lage, die zwischen ihnen erarbeiteten Abläufe ohne größere Probleme auf neue und unbekannte Situationen/Orte zu übertragen.
Sie sollten in dieser Zeit deshalb im eingegrenzten Garten mit nur wenigen Spaziergängen gehalten werden – dies erleichtert dem Eckhund die Ausprägung der Führung des Bindehundes, da durch die Begrenzung letzterer sich nicht entziehen kann. Sofern Spaziergänge unumgänglich sind, sollte es immer die gleiche Strecke sein.
Sofern machbar, sollte man die Hunde nur nachts ins Haus holen und dort den Tieren möglichst ausreichend Platz schaffen, damit sie sich – unter Einhaltung der Tabuzonen – ohne Probleme bewegen können.

Dass diese Punkte nur allgemeine Empfehlungen darstellen, die je nach individuellen Voraussetzungen der Hunde ergänzt oder auch variiert werden müssen, sollte nachvollziehbar sein.

In allen Fällen werden die Hunde aber bereits nach kurzer Zeit wieder Ansätze von Verhaltensweisen aus Struktur zeigen und auch für den Menschen wieder ansprechbarer sein. Je weiter sie wieder in ihre Stellung zurückgehen und darüber ihren inneren Halt finden, umso selbstbewusster können sie agieren, umso mehr „denken“ sie nach, verfallen nicht mehr in Übersprungshandlungen, Reparaturverhalten oder anderes, unangemessenes und übertriebenes Verhalten (rennen, bellen, anspringen, pöbeln, weglaufen etc.).

Abschließend seien noch einige Vergesellschaftungskonstellationen aufgeführt, die sich als unbefriedigend oder gar als unmöglich erwiesen haben.

Unbefriedigend sind aufgrund der besonderen, so genannten tiefenverknüpften Verbindung dieser beiden Stellungen bisher alle Versuche verlaufen, einen erwachsenen NLH mit einem erwachsenen N 3 zu vergesellschaften. Empfehlenswert ist für diese Konstellation deshalb, einen (möglichst stellungsstarken) NLH mit N3 Welpen neu zu verknüpfen, wenn der NLH bei der Kontaktaufnahme die Bereitschaft dazu signalisiert.

Gänzlich unmöglich ist es dagegen

  • stellungsstarke, erwachsene Tiere mit stellungsschwachen, erwachsenen Tieren zu vergesellschaften sowie
  • stellungsschwache, erwachsene Tiere mit Welpen zu vergesellschaften, da das stellungsschwache, erwachsene Tier verhindern wird, dass sich der Welpe stellungsstark entwickeln kann. Deshalb sollten grundsätzlich stellungsschwache Tiere keine solchen Veränderungen mehr erfahren. In ihnen sind häufig so viele Bereiche verkümmert, dass es für niemanden mehr Sinn macht, hier etwas zu verändern.

Bestandsaufstockung

Eine Besonderheit der Spätvergesellschaftung stellt die so genannte Bestandsaufstockung dar, also die Aufnahme einer fehlenden Stellung in einen bereits vorhandenen, strukturierten Hundebestand.

Wie schon die Problematik der Spätvergesellschaftung gezeigt hat, ist auch dies Unterfangen nicht einfach umzusetzen! Ohne größere Probleme ist dies nur mit stellungsstarken bzw. strukturiert geborenen Hunden möglich, die über alle ihnen angeborenen Fähigkeiten in vollem Umfang verfügen. Mit solchen Hunden lassen sich entstandene Lücken im Rudel durch einen Hund derselben Stellung ohne weiteres besetzen. So kann in allen Fällen, in denen einer der Hunde auf die Seniorenstellung geht, wieder ein aktives Tier identischer Stellung im Rudel Einzug halten.

In allen anderen Fällen müssen die individuellen Voraussetzungen der Hunde jedoch genauestens geprüft werden, bevor man zu einer solchen Ergänzung raten kann.
Es gelten hier all die bereits gegebenen Empfehlungen, die schon bei einer Spätvergesellschaftung zu beachten sind. Da allerdings aufgrund der größeren Anzahl an Hunden auch deutlich mehr Faktoren zu berücksichtigen sind, kann es unter Umständen auch zu einer weniger strengen Auslegung oder auch einer Ergänzung einzelner Punkte kommen – letztlich können die Empfehlungen nur auf den individuellen Fall zugeschnitten werden.