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Erfahrungsbericht einer Halterin eines Vorrang Leithund (VLH) als Einzelhund


Anmerkung: Um die Anonymität zu wahren, wurden hier sämtliche Namen entfernt. Der Name des Hundes wurde durch VLH ersetzt.

VLH ist mein erster Hund und ich wollte alles "perfekt" haben und mir einen unauffälligen, "netten" und zu allen "freundlichen" Begleiter heranziehen.
Menschen fand dieser Hund schon als Welpe toll und er wollte mit jedem Kontakt aufnehmen, stürmte munter drauf los und rannte in der Regel vor mir weg. Ohne Leine laufen lassen, konnte ich ihn nicht. Er sprang in fremde Gärten rein, nutzte jede offene Gartentür, um auf fremde Grundstücke zu kommen und spielte mit mir schon sehr früh das "Eierlochspiel“: Jedes Mal, wenn ich näher kam, rannte er weg.
Ich war daher stolz wie Oskar, wenn er das mal sein ließ und mir hinterher tapste (was vielleicht einmal im Monat vorkam). Auf der Hundewiese war er weg, sobald andere Hunde ins Spiel kamen.

Als VLH größer war, legte er Distanzen von 500 Meter und mehr zurück, um zu einem Hund zu gelangen, den er in der Ferne als Punkt gesehen hatte. Ich stand eigentlich immer alleine herum. Und die Überforderung wuchs. Eine Zeit lang ging es gut: Mein Hund hatte Spaß an einigen Übungen, wenn ein Spielzeug mit dabei war. Hatte ich kein Spielzeug dabei - oder er keinen Bock mehr auf Spielen - rannte er weg. Ich lief ständig meinem Hund hinterher und war damit beschäftigt, ihn wieder einzufangen.
Von der 12ten Woche an ging ich mit ihm zu einer Hundeschule und förderte seinen Außenfokus, ohne es zu wissen. In der Hundeschule waren wir immer die "Schlechten". Er konnte sich nicht auf die Übungen konzentrieren und mit Leckerlis ablenken ließ er sich erst recht nicht.
VLH wollte stets mit den anderen Hunden spielen und stand kreischend in der Leine. Er warf sich auf den Boden, schrie mich an und kugelte mir dabei fast den Arm aus (da war er circa ein halbes Jahr alt).
Mein Vater, der mich mal zu dieser Hundeschule begleitete, meinte schon damals, dass das "Pille Palle" sei und ich hier nur mein Geld zum Fenster rauswerfen würde.

So probierte ich, meinen Hund auf eigene Faust zu erziehen, hatte nur keine Ahnung wie. Einen Hundetrainer konnte ich mir nicht leisten, da ich arbeitslos war.
Der Frust in mir und die Überforderung wuchsen. Ich schrie ihn jetzt immer häufiger ohne Grund an, da ich so genervt von ihm war und mich für ihn schämte. Er bekam Angst vor mir und verkroch sich in der hintersten Ecke der Wohnung. Natürlich tat mir das dann sehr leid und ich weinte viel.
Als VLH noch etwas älter wurde, wand er sich aus dem Halsband, um zu verschwinden. Er nutzte jede Gelegenheit abzuhauen. Ableinen konnte ich ihn nicht, da er ja eh nicht zurückkam, wenn ich ihn rief. Ich hatte viele Gespräche mit meinem Lebensgefährten und sagte ihm, dass ich nicht mehr kann und den Hund abgeben werde. Mein Lebensgefährte war dagegen und bot mir an, ihn vorübergehend zu nehmen, damit ich durchatmen und mich beruhigen konnte.
Aber selbst danach bleib es so wie es war.
Der Hund fristete sein Leben an der Schleppleine und hielt nach den Dingen Ausschau, die ihn interessierten. Wenn ich etwas von ihm wollte, spielte er das "Eierlochspiel“ mit mir.

Unser Glück war es, dass wir, als er ein Jahr alt geworden war, zu einem kompetenten Verein kamen.
Dort wurde mein Hund analysiert und die Trainer verstanden gar nicht, wie ich mir "so einen Hund" als Ersthund zulegen konnte.
Das Kind war ja schon in den Brunnen gefallen, jetzt ging es darum, das Beste daraus zu machen.
Ich musste lernen, mein Verhalten zu ändern.
Ich war ja bis zu dem Zeitpunkt ein reines Nervenbündel.
VLH bekam die Möglichkeit, sich frei, ohne Leine, auf dem Hundeplatz zu bewegen; dort wurde analysiert, ob und wie er sich in der fremden Umgebung an mir orientierte. Und was VLH bis zu diesem Zeitpunkt nie getan hatte, machte er nun: Er sah nach mir. Da war ich geplättet. Mein Trainer meinte trotzdem, dass er hier keine Bindung erkennen kann. Wir arbeiteten seitdem auf diesem Hundeplatz miteinander und ich übernahm die Tipps, die mir dort gegeben wurden, mit in den Alltag.
Bindungsspiele standen auf den Programm (die herkömmlichen, mit Spielzeug und Futterbestätigung), außerdem wurde VLH "eingeordnet". Er musste lernen, zu warten und Kommandos einzuhalten, tat er das nicht, wurde es unangenehm für ihn (leichte Zwangeinwirkung). Ich wurde zwar wieder ruhiger, entwickelte aber gleichzeitig die Einstellung, dass ein Hund möglichst wenig darf und der Mensch über alles entscheiden muss.
Nach drei Monaten konnte ich ihn frei laufen lassen. Er wusste jetzt, was ich von ihm verlangte, Befehle waren abgesichert und durchgesetzt worden.
Trotzdem blieb die Angst, dass er weglaufen oder jagen gehen könnte.

Während des Trainings bei diesem Verein, kam ich das erste Mal mit Hundesport in Kontakt und schnupperte in den VPG Sport hinein.

Ich bin diesen Trainern durchaus sehr dankbar, dass sie uns unter die Fittiche genommen haben, da ich sonst an gescheitert wäre und meinen VLH womöglich abgegeben hätte.

Vor dem Training bei diesem Verein
- ging er jagen (aber richtig!)
- verbellte Menschen und stellte sie
- war nicht abrufbar
- streunte herum, sobald er sich befreit hatte
- zerstörte Geschirre/Leinen um abzuhauen
- rannte andere Hunde über den Haufen, war übermütig und distanzlos
- öffnete Türen um abzuhauen.

Zu Hause gab es Hausstandsregeln. Er wurde viel angeleint und auf einem strategisch- ungünstigen Platz gesichert, da er Besuch anknurrte, der Angst vor ihm hatte.

Unser gesamter Alltag bestand aus Regeln und Einschränkungen. Ich schränkte seinen Wirkungskreis ein, auch zu Hause, schickte ihn sehr oft auf seinen Platz, da ich der Meinung war, er dürfe in der Wohnung nicht im Weg rum liegen.

Obwohl wir uns immer mehr annährten (draußen machten wir Aktion und drinnen sollte Hundchen ruhig sein), blieben bei mir Fragen offen.
Ich wollte gerne wissen, wie Hunde sich untereinander binden.
Die verteilen keine Leckerlis und Spielzeuge, also konnte das nicht alles sein.

Im Laufe des Erwachsenwerdens traten neue Probleme auf. Mein Rüde entwickelte eine Leinenaggression. Dieses Mal holte ich mir einen Trainer zur Hilfe und arbeitete zusammen mit ihm an diesem Problem. Er stellte fest, dass mein Hund sich sehr schnell durch einen Reiz ablenken ließ. Und ich bekam die Aufgabe, mich mit Leinenruck bei meinem Hund durchzusetzen. Ich hatte jetzt die Einstellung: Ich bin Führer und Hund muss das machen, was ich will.
Er wurde verwarnt und wenn er nicht auf mich reagierte und sich an mir orientierte, setzte es einen Ruck an der Leine, der seinem Erregungslevel angepasst war. Für gewünschtes Verhalten wurde er belohnt. Im Sommer letzten Jahres nahm ich an einem Seminar zum Thema "Führung" teil und kam mit dem Ampelprinzip in Kontakt, dass ich in unseren Alltag einbaute.
In der Folge wurde VLH bei Hundebegegnungen unsicherer.
Ich quälte ihn durch diese Begegnungen, da ich gelernt hatte, dass der Hund halt das machen muss, was ich will, auch wenn es mal unangenehm für ihn ist.
Dann kamen wir an einen Punkt (Leinenaggression), an dem es nicht mehr weiter ging. Mein Rüde pöbelte und ließ sich selbst durch "wegdrängen" und "deckeln" nicht mehr unter Kontrolle bringen.
Es wurde wieder stressig.
An diesem Punkt wurde mir klar, dass etwas ganz grundsätzlich falsch lief, es fühlte sich einfach nicht richtig an: Es konnte ja nicht Sinn und Zweck sein, den Hund die ganze Zeit unterzubuttern.

Zu der Zeit las ich in einem anderen Forum von den Rudelstellungen.
Ich fand Barbara Ertels Aussagen sehr interessant und verfolgte die Gespräche zwischen ihr und den anderen Usern.
Als es dann hieß, dass ein Workshop veranstaltet wird, fuhr ich zusammen mit meinem Lebensgefährten und einer Freundin hin.
Wir bekamen dort die Antworten auf unsere Fragen und ich sah meinen Rüden zum allerersten Mal in einem völlig anderen Licht, als ich erleben durfte, wie er mit einer V2 Hündin, mit der zusammen gebracht wurde, umging. Endlich gab es eine Erklärung für das Leinenpöbeln und all die anderen Probleme, die wir hatten. Mein Hund ist ein Vorrang Leithund. Barbara, die meinen Hund gerade 10 Minuten kannte, redete über ihn, als würde sie ihn ewig kennen. Das war schon krass. Gleichzeitig war ich fix und fertig, da die Vergangenheit in mir aufstieg und was ich meinen Hund alles zugemutet hatte.

Zu Hause machte ich mich ans Beobachten. Von Barbara bekam ich den Rat, meinen VLH stark zu machen. Ich fragte mich, wie ich das Ganze in den Alltag integrieren sollte. Ganz überzeugt davon war ich am Anfang nicht. Trotzdem versuchte ich es. Je mehr ich meinen Rüden los ließ, desto mehr erlitt ich einen Kontrollverlust. Es war ungewöhnlich, den Hund einfach "machen" zu lassen.
Ich arbeitete zu fremden Hunden hin, mit großen Abständen, und ich probierte, auf Kommandos zu verzichten. Dabei übernahm ich jetzt die Aufgabe, Außenreize ernst zu nehmen und sie gemeinsam mit meinem Leithund zu beobachten.

Ich erklärte ihm sehr viel zu dieser Zeit, was für meinen VLH eine ganz neue Erfahrung war, dass Frauchen sich plötzlich um so etwas "kümmert". Da wir in der Stadt leben, gibt es ab und zu Kontakte mit anderen Hunden, die sich nicht vermeiden lassen, aber auch hier fand ich eine Lösung: Ich stellte mich rechtzeitig vor ihn und gab ihm Schutz. Hinter mir konnte er den fremden Hund beobachten. Ließ es das Gelände zu, wichen wir aus oder machten einen großzügigen Bogen. Hier sehe ich beispielsweise, im Alltag, dass er jetzt das Bogenlaufen selbst übernimmt. Als hätte er sein leben nichts anderes gemacht, hält er nun die Individualdistanz fremder Hunde ein.

Ich bekam einen Kurzführer, der an seinem HB befestig war. So brauchte ich ihn nicht unbedingt anleinen und bei Außenreizen gab mir dieser Kurzführer Sicherheit.

Mein Leithund hatte zu diesem Zeitpunkt noch einen starken Vorwärtsdrang und einen großen Radius. Die ersten Tage lief er deshalb mit einer Schleppleine, auf die ich trat, wenn er einen bestimmten Radius verlassen wollte. Dann hockte mich jeweils hin und wartete auf meinen Hund. War er bei mir angekommen, strich ich ihn ab und sagte zu ihm, dass er gerade etwas schnell unterwegs sei und ich mich freuen würde, wenn er nicht so weit wegläuft. Mein Ziel war und ist es, möglichst viel über Körpersprache und Blickkontakt mit ihm zu reden.
Ich begann, ihn in den Dingen, die er macht, zu bestätigen. Mein Hund kraxelte auf eine Mauer? Kein Problem, Frauchen kraxelte hinterher und wir beobachteten von der Mauer aus das Treiben unter uns (Frauchen mit Schweiß auf der Stirn und VLH gaaaanz stolz). Ich krallte mich an den Steinen fest und hatte echt Angst, dass ich im nächsten Moment von der Mauer rutsche.

Ich weiß nicht, warum mich Herr Hund in solchen Augenblicken angrinst: Entweder findet er es einfach nur lustig, wie ich mich anstelle oder er findet es gut, dass ich meine Angst überwinde und mit ihm so einen Blödsinn anstelle, ich kann es Euch nicht sagen.

Mein Hund ist ein Vorrang Leithund. Er darf führen. So bestimmt im Gelände er den Weg. Dadurch, dass wir gemeinsam aufeinander achten, bleiben wir zusammen. Ist mein Rüde mal kurz verschwunden, weiß ich, dass er gleich wieder auftauchen wird. Als wir im Frühjahr eine alte Bunkeranlage besucht haben, war VLH plötzlich weg. Früher wäre ich tausend Tode gestorben, aber da war ich schon eine ganze Ecke ruhiger. Plötzlich tauchte er auf der circa 5-6 Meter hohen Fassade auf und sah freudestrahlend zu uns hinunter, kam wieder und zeigte uns stolz den Weg, den wir als nächstes gehen konnten. Auf der anderen Seite ging es noch mal 20 Meter in die Tiefe. In seiner Abwesenheit hatte dieser „Verrückte“ einen Weg gesucht. Während VLH wie eine Bergziege umher rannte und sprang, hatten wir Menschen schon ein wenig Mühe, dort runter zu kommen. Aber auch da hat er als Leithund mit und an uns gedacht und uns vorher einen getrampelten, schmalen Pfad angezeigt. Deshalb sage ich zu meinem Lebensgefährten auch immer: Lass uns dem Hund folgen, der weiß wo es langgeht, und so ist es wirklich.

In unserem Kernrevier könnte er jeden Fremden problemlos herumführen. Wege, die er einmal gegangen ist, findet er wieder und verlaufen tut er sich nie. Da bin eher ich das Problem.

Gegen die Entscheidungen, die er trifft- habe ich nichts einzuwenden. Er macht das toll und ich genieße die gemeinsame Kommunikation mit ihm.

Trotz allem bleibe ich in der Menschenwelt die letzte Instanz. Wenn es sein muss und mein Hund im Begriff ist, eine falsche Entscheidung zu treffen, wird er von mir konsequent gestoppt. Dann muss er diverse Erklärungen über sich ergehen lassen.

Ich musste lernen, dass man als Mensch nicht immer direkt von A nach B gehen muss, sondern ein Weg variabel sein kann und dass mein Hund an der Leine mindestens eine Tonne wiegt. Deshalb muss ich mit ihm nicht in die direkte Konfrontation gehen.
Ein Hund, der eine Tonne wiegt, den kann man auch nur schwer bewegen.
Wir laufen nicht vor Problemen weg, sondern schauen sie uns an.

Ich zwinge meinen Vorrang Leithund nicht mehr zu etwas, so wie es früher der Fall war.
Wir gehen gemütlich Gassi oder stecken gerade in irgendeinen Busch. Wo man uns nicht vermutet, tauchen wir plötzlich auf und sorgen für Überraschung oder Erschrecken.

Insgesamt haben seit dem Workshop sehr viele positive Veränderungen eingesetzt, die ich hier mal aufzählen möchte:

-    Sein Radius im Freilauf ist viel kleiner geworden (0-20 Meter).
-    Er stürmt auf fremde Hunde nicht mehr zu und hält die Individualdistanz ein.
-    Er lässt sich abrufen, wenn er provoziert wird (andere Hunde).
-    Seine Wachsamkeit, wenn ihm etwas spanisch vorkommt, ist erhöht.
-    Er zeigt Führ-Kompetenz bei Außenreizen und führt uns aus der "Gefahrenzone".
-    Er zeigt weniger Interesse an fremden Menschen, bzw. mehr ignorantes Verhalten ihnen gegenüber und geht seltener "Hallo sagen" (Menschen die Einkaufstüten tragen, sind noch ein Problem, da möchte er den Kopf reinstecken und die Einkäufe checken, auch Menschen, die vor ihm Angst haben, wecken sein Interesse).
-    Die Leinenaggressivität ist fast verschwunden. Er schafft es sogar schon, ohne großes Theater zu machen an aggressiv bellenden und/oder fixierenden Hunden vorbei zu gehen.
-    Im Alltag kann er fast immer ohne Leine laufen.
-    Am Wild, das sich in der Ferne befindet (Distanz zum Wild 80-100 Meter) steht er vor; plötzlich aufspringende Hasen/Karnickel sind zwar noch ein Problem, mir fällt aber auf, dass er nicht mehr so stark fokussiert auf Wildgerüche ist. Und wenn es mal passiert und die Hasen mit ihm durchgehen (*grrrrr*) dann merkt man, das da kein ernsthaftes Interesse dahinter steht, den Hasen jagen zu müssen.
-    In der Stadt orientiert er sich stärker an mir und richtet den Fokus nach innen.
-    Er ist mental härter als vor ein paar Monaten. Wenn er ein Ziel vor Augen hat, sucht er nicht mehr sofort bei "Mutti" nach Hilfe.
-    Nach jedem Stellungslauf mit den passenden Hunden wächst er optisch um ein paar cm.
-    Er ist allgemein ausgeglichener und gelassener, dabei extrem aufmerksam und wissbegierig.
-    Im Gegensatz zu mir hat dieser Hund einen Ordnungssinn.
-    Er spricht sich mit mir ab und schickt mich los, damit ich die Lage peile (wenn ich sie denn peile, das ist immer die Frage…).  

Aber das Wichtigste von allem, was ich sehr positiv finde: Mein VLH vertraut mir langsam. Das macht mich glücklich.
Außerdem hat die ganze Entwicklung der letzten Monate auch mich aufgebaut, ich bin souveräner geworden. Ich weiß jetzt auch, was "Führung" in Wahrheit bedeutet. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob ich ihn "stark" gemacht habe, oder er mich.
Wir müssen noch viel lernen, das ist klar, aber der Workshop bzw. das Wissen über die Rudelstellung hat den Grundstein zu einem besseren Verständnis zwischen mir und meinem VLH gelegt.
Und darauf bauen wir kontinuierlich eine immer schönere, harmonische und respektvolle Partnerschaft auf.